skandinavische Philosophie

skandinavische Philosophie
skandinavische Philosophie,
 
Sammelbezeichnung für die in Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland ausgebildeten philosophischen Traditionen.
 
Die schwedische Philosophie entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert in enger Anlehnung an das europäische Geistesleben. Unter dem Einfluss des Schwedenaufenthaltes von R. Descartes vertrat Olof Rudbeck der Ältere (* 1630, ✝ 1702) zunächst einen Cartesianismus, später einen an J. Locke orientierten Empirismus. Im 18. Jahrhundert war v. a. die Wirkung der französischen Aufklärung und Popularphilosophie bestimmend (C. G. af Leopold); neben skeptisch-agnostischen Tendenzen wurden auch mystisch-theosophische Gedanken aufgegriffen, v. a. von E. Swedenborg. Ende des 18. Jahrhunderts herrschte der rationalistische Einfluss von G. W. Leibniz und C. Wolff vor (Samuel Klingenstierna, * 1698, ✝ 1765; Nils Wallerius, * 1706, ✝ 1764), seit 1800 die kantische Philosophie (Daniel Böetius, * 1751, ✝ 1810).
 
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte Benjamin Höijer (* 1767, ✝ 1812) kritisch gegen Kants Begriff des »Dings an sich« eine vom deutschen Idealismus beeinflusste Lehre. Eine spekulative Geschichtsphilosophie schuf E. G. Geijer. Als Hauptsystematiker der skandinavischen Philosophie gilt Christopher Jacob Boström (* 1797, ✝1866), der eine von F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel beeinflusste Metaphysik (neu)platonischer Prägung entwickelte: Nicht nur dem Menschen eignet Bewusstsein, alle Dinge sind wesentlich geistiger Natur. Eine Hierarchie von Ideen bildet das Wesen der Wirklichkeit. Seine Schule (Boströmianismus), die Hegels philosophische Wirkung in Deutschland vergleichbar ist, wirkte bis in das 20. Jahrhundert hinein (u. a. Carl Ynge Sahlin, * 1824, ✝ 1917; Efraim Liljequist, * 1865, ✝ 1941). Ihre Wirkung wurde in gewissem Umfang durch die hegelianische Kultur- und Religionsphilosophie von Johan Vitalis Abraham Norström (* 1856, ✝ 1916) eingeschränkt. Im 20. Jahrhundert strebte Hans Larsson (* 1862, ✝ 1944) einen Ausgleich zwischen Boströmianismus und Hegelianismus mittels einer Transzendentalphilosophie (Kant) an, der zunächst auch Axel Hägerström (* 1868, ✝ 1939) angehörte. Dieser bewirkte einen Bruch mit der metaphysischen Tradition und wurde zum Begründer der sprachanalytischen Schule von Uppsala. Nach Hägerström sind ethische Sätze subjektiv und enthalten keine verallgemeinerbare Erkenntnis. Darüber hinaus wirkte er bahnbrechend in der Rechtsphilosophie. Neben Adolf Phalén (* 1884, ✝ 1931) gingen v. a. Marc Wogau (* 1902, ✝ 1991), Ingemar Hedenius (* 1908, ✝ 1982) und Anders Wedberg (* 1913, ✝ 1978) von ihm aus, die eine Verbindung zu Neopositivismus, analytische Philosophie und formaler Logik herstellten. Auf psychologistisch-positivistischer Grundlage strebte Alf Nyman (* 1884, ✝ 1968) eine Erkenntnislehre und Wissenschaftsmethodologie an.
 
Die finnische Philosophie weist eine enge Anlehnung an die schwedische auf, wobei insgesamt eine empirisch-wissenschaftliche, v. a. psychologische Orientierung vorherrschend ist. Das 17. Jahrhundert kennzeichnete ein Cartesianismus an der Universität Åbo (Turku; gegründet 1640 als erste finnische Universität). Im 18. Jahrhundert wurden der Empirismus von Locke und D. Hume einerseits, der Kantianismus andererseits bestimmend. Johan Jacob Tengström (* 1787, ✝ 1858) führte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Philosophie Hegels ein. Relativistisch und zugleich psychologistisch sind die Soziologie und Ethik von Edward Westermark (* 1862, ✝ 1939) geprägt. Einen an L. Wittgenstein, B. Russell und A. N. Whitehead orientierten logischen Positivismus vertrat Eino Kaila (* 1890, ✝ 1958), einer der bedeutendsten finnischen Philosophen. Zu seinen Schülern gehörte G. H. von Wright, der unter englischem Einfluss v. a. mit formaler Logik und sprachanalytischer Philosophie (Probleme der Ethik u. a.) befasst ist. Mit der Sprachphilosophie Wittgensteins setzte sich auch Erik Stenius (* 1916), v. a. mit mathematischer und philosophischer Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie (Semantik) J. Hintikka auseinander. Weiterhin spielen heute in Finnland Fragen der Philosophie- und Geistesgeschichte und der Anschluss an die internationale philosophische Diskussion eine Rolle (neben Hintikka auch seine Schüler Raimo Tuomela, * 1940; Ilkka Niiniluoto, * 1946; außerdem Jussi Tenkku).
 
Die dänische Philosophie war zunächst durch den Empirismus bestimmt; nach Jens Schielderup Sneedorff (* 1724, ✝ 1764) beruht alle Erkenntnis auf Erfahrung, die jedoch niemals zur Gewissheit, sondern nur zu wahrscheinlichem Erkenntnis führt. Zur gleichen Zeit entwickelten Jens Kraft (* 1720, ✝ 1765) und Frederik Christian Eilschow (* 1725, ✝ 1750) einen von Wolff geprägten Rationalismus. Ende des 18. Jahrhunderts gewann die Philosophie Kants an Einfluss (Anders Sandøe Ørsted, * 1778, ✝ 1860, auch als Premierminister und als Jurist bekannt), gefolgt von einer an Schelling orientierten Naturphilosophie (H. Steffens, der seit 1804 außerhalb Dänemarks lehrte, und sein Schüler Fredrik Christian Sibbern, * 1785, ✝ 1872). Einen Hegelianismus vertraten J. L. Heiberg, H. L. Martensen, Rasmus Nielsen (* 1809, ✝ 1884) und Hans Broechner (* 1820, ✝ 1875). Sowohl gegen den Hegelianismus als auch gegen die Auffassung der Philosophie als ein System entwickelte S. Kierkegaard seine Existenzphilosophie, als deren »Vater« und damit als bedeutendster dänischer Philosoph er heute gilt. Einflussreich in Dänemark ist v. a. Harald Høffding (* 1843, ✝ 1931), der auf allen philosophischen Gebieten arbeitete, besonders über Ethik, der er die Psychologie zugrunde legte. Im 20. Jahrhundert arbeitete Frithiof Brandt (* 1892, ✝ 1968) über T. Hobbes und Kierkegaard, Victor Kuhr (* 1882, ✝ 1948) wurde für seine Einführungen in die Geistesgeschichte bekannt; durch Jørgen Jørgensen (* 1894, ✝ 1969), der sich mit Fragen der Logik und Wissenschaftsphilosophie auseinander setzte, gewann der logische Positivismus an Einfluss. Durch Justus Hartnack (* 1912) wurde die britische analytische Philosophie eingeführt. V. a. für die Universität Kopenhagen ist ein psychologistischer Umgang mit philosophisch-erkenntnistheoretischen Problemen kennzeichnend.
 
Der erste norwegische Philosoph war Niels Treschow (* 1751, ✝ 1833), der zunächst in Kopenhagen lehrte, bevor er 1813 an die erste norwegische Universität in Oslo berufen wurde. Treschow vertrat gegen den kantischen Kritizismus und den cartesischen Geist-Materie-Dualismus einen Monismus spinozistischer Prägung. Im gesamten 19. Jahrhundert war Hegels Philosophie bestimmend (bei P. M. Møller und Marcus Jacob Monrad, * 1816, ✝ 1897). Das 20. Jahrhundert ist durch eine Abwendung vom Hegelianismus (»tote Periode«) und ein Interesse an Fragen der Wissenschaften, der Philosophiegeschichte und der Psychologie gekennzeichnet (etwa A. Aall, Harald Schjelderup, * 1885, ✝ 1975). Die sprachanalytische Philosophie (empirische Semantik) entwickelte sich durch Arne Naess (* 1912) und seine Schüler, die Gruppe von Oslo, die eine Reihe von Begriffen (etwa »Wahrheit«, »Demokratie«) mithilfe empirischen Analysen ihrer Verwendungsweisen zu bestimmen suchte.
 
 
J. Hartnack: Scandinavian philosophy, in: The encyclopedia of philosophy, hg. v. P. Edwards, Bd. 7 (New York 1967, Nachdr. ebd. 1972);
 
Contemporary philosophy in Scandinavia, hg. v. R. E. Olson u. a. (Baltimore, Md., 1972);
 
Handbook of world philosophy, hg. v. J. R. Burr u. a. (London 1981).

Universal-Lexikon. 2012.

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